- Stoa und Skeptizismus: Gelassenheit und Urteilsenthaltung
- Stoa und Skeptizismus: Gelassenheit und UrteilsenthaltungUm 300 v. Chr. begann Zenon von Kition, ein Schüler des Kynikers Krates von Theben, in einer Säulenhalle (»Stoa poikile«) auf der Agora Athens Vorlesungen zu halten. Daraus entwickelte sich die Schule der Stoa, die im Römischen Reich bis zum Ende des 2. Jahrhunderts zur einflussreichsten philosophischen Strömung werden sollte. Als Leiter der Schule folgten nach Zenons Tod erst Kleanthes von Assos und nach dessen Tod Chrysippos von Soloi. Letzterer gilt als »zweiter Gründer« der Stoa, weil er die Lehre der alten Stoa in zahlreichen Schriften systematisch ausgearbeitet hat. Die Lehre der Stoa ist in die - seit Xenokrates üblichen - Disziplinen Ethik, Physik, Logik unterteilt, wobei letztere die Erkenntnislehre, Dialektik, Rhetorik und Semantik umfasst. Grundbegriff aller drei Hauptdisziplinen ist der Logos, hier aufgefasst als Vernunft, Gesetzmäßigkeit, vernünftiges Prinzip.Wie der Kynismus geht auch die stoische Ethik davon aus, dass die Tugend allein für das menschliche Glück hinreichend ist. Man lebt »in Übereinstimmung«, wenn man nur Ziele erstrebt, die erreichbar sind. Das einzige Ziel aber, das nur vom einzelnen Menschen abhängt, ist die Tugend. Was das Leben in Übereinstimmung beeinträchtigt, sind die Affekte wie Lust, Unlust, Begierde, Furcht, weil sie eine Abhängigkeit von Gegebenheiten erzeugen, die nicht in der Macht des Einzelnen stehen. Der Weise sucht daher einen affektlosen Zustand, die Apathie. Ein Affekt entsteht nur dann in uns, wenn wir einem natürlichen Trieb die Zustimmung durch die Vernunft geben, sodass die Affekte für den einzelnen verfügbar werden. Der natürliche Trieb ergibt sich im Zusammenhang mit einer ursprünglichen Hinwendung des einzelnen zu sich selbst (»oikeiosis«) zum Zwecke der Selbsterhaltung. Doch kann sich der Trieb auch auf Ziele richten, die nicht gänzlich in der Macht des Einzelnen stehen, wie etwa Gesundheit und Ansehen; die richtige Einsicht würde dazu nicht ihre Zustimmung geben, gibt man diese dennoch, entsteht ein Affekt. So hängt es auch vom Einzelnen ab, ob er etwa den Schmerz als ein Übel erfährt. Worauf es daher ankommt, ist die richtige Einsicht, dass keine Strebensziele befürwortet werden dürfen, deren Erlangung nicht ganz in unserer Macht steht. Diese Einsicht fällt für die Stoiker mit der Tugend zusammen, die somit lehrbar ist. Außer der Tugend ist alles andere weder gut noch schlecht, es ist moralisch indifferent oder gleichgültig (»adiaphoron«).Die stoische Erkenntnislehre sieht die Wahrnehmung als Grundlage jeder Erkenntnis. Eine spezifische Vorstellung der Stoiker ist es, dass der Wahrnehmungsvorgang in zwei Phasen zu zerlegen ist: die erste dieser Phasen besteht in einem passiv erworbenen Sinneseindruck, wozu auch leere durch Wahn oder Einbildung entstandene Vorstellungen gehören können. In der zweiten Phase erfasst der anführende, vernünftige Seelenteil, der »Logos«, den Inhalt der entsprechenden Vorstellung als mit der Wirklichkeit übereinstimmend, indem er seine Zustimmung gibt. Das wahre Wahrnehmungsurteil ist aber vom eigentlichen Wissen noch unterschieden, welches erst in einem sicheren und unerschütterlichen Erfassen besteht.Die Stoiker haben sich auch mit der Kosmologie, der Frage der Welterklärung, befasst. Als Substanz der Welt, aus der alles hervorgegangen ist, nimmt die stoische Physik eine zeitlich unendliche, aber quantitativ begrenzte Urmaterie an. Insoweit ist die stoische Physik materialistisch. Sie anerkennt aber auch vier Formen des Unkörperlichen, nämlich die Bedeutungen, das Leere (außerhalb der Welt), den Ort und die Zeit. Innerhalb des Körperlichen unterscheiden die Stoiker ein aktives und ein passives Prinzip. Das aktiv formende und strukturierende Prinzip ist der Logos, die Vernunft, die auch mit Gott und dem Schicksal identifiziert wird. In Anlehnung an die Lehren Heraklits wird die von der Vernunft durchdrungene Materie als ein »künstlerisches Feuer« angesehen, aus dem der Kosmos hervorgeht und in das sich der Kosmos nach Ablauf einer Weltperiode durch »Ausbrennung« wieder verwandelt, um dann erneut daraus hervorzugehen. Dieses Feuer oder der »feuerartige Hauch« ist zugleich Seele und somit vernünftig. Das vernünftige Prinzip ist im ganzen Kosmos anwesend - allerdings in unterschiedlichen Graden. Mit der Vorstellung, dass der Kosmos vom vernünftigen Prinzip und somit von Gott durchdrungen ist, geht für die Stoiker der Gedanke einer durchgängigen Vorsehung oder kausalen Determination einher. Dies wiederum wirft erhebliche Probleme für die moralphilosophische Frage auf, wie der Mensch als verantwortlich handelndes Wesen in einer der Vorsehung unterworfenen Welt angesehen werden kann.Die strenge Lehre der alten Stoa wurde in der weiteren Entwicklung der stoischen Schule vielfach modizifiert und für ein weiteres Publikum zugänglich gemacht. Die wichtigsten Vertreter der mittleren Stoa waren Panaitios von Rhodos und Poseidonios von Apameia. Erst die Abkehr vom Rigorismus der alten Stoiker ermöglichte die beispiellose Breitenwirkung, die die spätstoischen Schriftsteller, wie Seneca, der freigelassene Sklave Epiktet und der römische Kaiser Mark Aurel, erzielen konnten.Skeptizistische Strömungen gab es in der griechischen Philosophie offenbar schon früh. Der Darstellung Platons zufolge hat etwa die von den Herakliteern vertretene Lehre vom beständigen Fluss der Dinge unmittelbar skeptische Konsequenzen für das menschliche Erkennen. Denn wenn sich alles zu jedem Zeitpunkt in jeder Hinsicht bewegt und sich qualitativ verändert, dann kann es keine Erkenntnis geben, weil Erkenntnis immer die Erkenntnis einer bestimmten Beschaffenheit ist. Auch Sokrates' Aussage »ich weiß, dass ich nichts weiß« wurde offenbar von verschiedenen Anhängern skeptizistisch im Sinne von »ich weiß, dass ich nichts wissen kann« interpretiert. Die bedeutendste skeptizistische Bewegung der Antike ging jedoch von Pyrrhon von Elis aus, der selbst allerdings nichts Schriftliches hinterlassen hat. Näheres über die Grundzüge der Pyrrhonischen Skepsis erfahren wir erst durch Pyrrhons Schüler Timon von Phleius. Nach Timon scheint die Pyrrhonische Schule zunächst abzubrechen; im 1. Jahrhundert v. Chr. findet sie jedoch mit Änesidemos von Knossos einen wichtigen Nachfolger. Im 2. Jahrhundert n. Chr. verfasste Sextus Empiricus, der als Arzt in Alexandria lebte, einen ausführlichen »Grundriss der pyrrhonischen Skepsis«.Letzterer vergleicht den Ursprung des skeptischen Denkens mit einem Erlebnis des Malers Apelles, der vergeblich versucht hatte, den Schaum vor dem Mund eines Pferdes auf einem Bild darzustellen. Aus Wut schleuderte er den Schwamm, mit dem er die Farben vom Pinsel abgewischt hatte, gegen das Bild, und der Abdruck des Schwammes ergab genau die Abbildung des Schaumes, um die er sich vergeblich bemüht hatte. Ähnlich soll es den Skeptikern ergangen sein: Zuerst versuchten sie Kenntnisse darüber zu erlangen, wie die Dinge in Wirklichkeit sind, welche Einstellungen wir ihnen gegenüber einnehmen sollen und was sich aus dieser Einstellung ergibt. Dabei stellten sie fest, dass die Dinge unbestimmbar und unentscheidbar sind; für entgegengesetzte Seiten einer Sache nämlich gebe es gleichwertige Argumente. Daher empfahlen sie die Urteilsenthaltung, das heißt, der Skeptiker wird sich jeder Meinung und Zuneigung zu der einen oder anderen Einsicht enthalten. Zu jeder Streitfrage wird er nur die skeptische Losung anführen, dass es nicht eher sei als nicht sei. Dadurch wird ihm zunächst »Sprachlosigkeit« (Verzicht auf jede Stellungnahme), dann innere Ruhe und Unerschütterlichkeit und somit Freude zuteil. Er erreicht damit sein primär praktisches Ziel ebenso wie der Maler Apelles indirekt und durch Verzicht auf das ursprüngliche Vorhaben.Auch in der Platonischen Akademie wurde der Dogmatismus der frühen Schuloberhäuter im 3. und 2. Jahrhundert v. Chr. durch eine skeptizistische Phase beendet. Mit dieser Phase der Akademie sind vor allem die Namen Arkesilaos von Pitane und Karneades von Kyrene verbunden. Wie Pyrrhon lehrten die akademischen Skeptiker die Urteilsenthaltung. Für das praktische Leben gaben die akademischen Skeptiker zugleich den Anspruch auf, dass Entscheidungen von einem sicheren Wissen geleitet sein müssten; es genüge vielmehr, dass unsere Handlungen auf wahrscheinlichen oder wohlbegründeten Überlegungen beruhen.Dr. Christof RappHossenfelder, Malte: Stoa, Epikureismus und Skepsis. München 21995.
Universal-Lexikon. 2012.